

Seit bereits geraumer Zeit hebt sich auch in der verschlafenen Landeshauptstadt Kiel eine junge Bewegung in den nächtlichen Straßen von den trüben Träumen des altbekannten Graffiti ab. Für den Rest der Welt ist es fast schon ein alter Hut und „flasht schon lange nicht mehr“, doch unsere geliebte Fördestadt scheint gerade erst auf den Geschmack zu kommen – Streetart ist in aller Munde. Und so verwundert es nicht, dass neben erfrischenden Gehversuchen und punkig-politischen Machwerken mittlerweile auch hier wirklich ernstzunehmende Kunstwerke des Nächtens an die Wände gebracht werden.
Ein Verteter letzteren Falls ist erst kürzlich ins Laternenlicht getreten, bewegt er sich doch sonst zwischen Galerie und Leinwand als traditioneller Kunstschaffender. Die Rede ist von „1ND1V1DUM8“, gesprochen: Indivi-dumb.
Wir hatten das große Glück 1ND1V1DUM8 bei Kippe und Astra zu treffen und mit ihm über sich selbst, seine Arbeit und die Vision dahinter zu sprechen. Überraschend unscheinbar und fast garnicht durchgestylt kommt der gefällige Mitt- dreißiger daher.
Man würde beim flüchtigen Blick weder seine Identität als freier Künstler und noch weniger ein Alter Ego als Kleisterpinsel-schwingenden Sozialkritiker vermuten. 1ND1 verrät uns, die ganze Kunstsache sei aus der Comiczeichnerei entstanden, aber man würde ja irgendwann erwachsen. Er hat Freie Kunst und Malerei studiert. „Am liebsten bin ich zum Aktzeichnen gegangen“ grinst er. Und den Kürzel 1ND1 soll ich mir gleich wieder abgewöhnen, sagt er. Seiner Meinung nach nervt dieses Namensgetue nur und er wollte sich eigentlich strikt gegen so etwas wehren, doch irgendwie muss mans ja nennen. Die Kunstwerke von 1ND1 seien nicht, was er normalerweise mache, und das habe den Grund, ja auch verständlich sein zu müssen, wenn man sich schon überlegt, den Leuten in den Straßen etwas mitzuteilen.
„Ich wollte nix groß erklären müssen und ich wollte auch, dass jeder, der an meinen Sachen vorbeiläuft, sie auch versteht.“
Läuft man also dieser Tage über den Holstentörn, durch die Olshausenstraße, den Knooper Weg oder Westring, so schauen einen verknöcherte, und melancholisch drein blickende Zombies an. Sie starren wie gelähmt auf ihr Smartphone, machen unentwegt Fotos von irgendwas und weisen ihre fettgefressenen Hunde zurecht. Eine stetiger Begleiter sind die massigen Einkaufstüten – und die großen, roten Herzen. „Ich wollte erst riesige Herzen machen. Nichts weiter. Und riesig heißt riesig, so 10×10 Meter.. Aber erstens findet man kaum Flächen für sowas hier in Kiel, und zweitens wäre das wieder zu vage und unverständlich gewesen.“ Nun sind es also lebensgroße, fahle und abgemagerte Zombies mit Haltungsschäden, die uns traurig entgegenblicken. Dabei scheint es, als zeigten sie uns nur, wer wir sind und was mit uns geschehen ist.
Nicht umsonst sucht sich 1ND1 besonders exponierte Plätze aus. Viel frequentierte Bushalten werden mit 1,80 Meter großen Geistern versehen, die wie tot da stehen. Zu ihren Füßen wieder die großen Einkausttüten mit dem Herz. 1ND1 verwendet bahnenweise Klebefolie an der Glasscheiben der Bushalten und malt jeden Zombie von Hand. Nur schemenhaft erkennt man die mattierte Facette und die wie im Wahn mit dem Marker gekritzelten Geister-Zombies. Auch die lebensgroßen T apeten-Zombies sind allsamt handgemalt, keine Kopien, kein Plotter.
„Ja, etwas kopieren, teilen, posten kann jeder heute. Es ist das gleiche, ob ich nun auf nen Share-Button irgendwo drücke oder ne Kopie von etwas irgendwo hinklebe. Du kannst heute
keine Aussagen mehr machen, wenn du sie nicht selber formulierst. Ob nun mit dem Mund oder eben wie ich mit dem Marker. So etwas wie Glaubwürdigkeit gibt es kaum noch. Die omnipotente Verfügbarkeit jeglicher geistiger Erzeugnisse hat diese gekonnt entwertet. Was bedeutet eine Aussage denn, wenn ich sie nicht selbst erdenken und formulieren muss, wenn ich sie gleich wieder löschen kann, und vorallem, wenn vor mir schon abertausende Menschen diese Meinung als ihre deklariert haben, und keiner weiß, woher sie eigentlich kommt?“
Doch was soll das alles? Sind wir zu liebes- und lebensleeren Zombies geworden, die ihr leben garnicht leben sondern nur wie schon tot ertragen und an uns vorbeiziehen lassen? Und in den Tüten ist falsche Liebe? die, die wir kaufen, um uns vorzugaukeln, dass wir glücklich wären? 1ND1s Antwort bleibt überraschend kurz und simpel:
„Keine Ahnung. Das musst du die Zombies fragen. Oder wenn du davor stehst und dich erkennst, frag sich einfach selbst. Mehr kann und will ich garnicht.“
Aber es ist ja schon eine verblüffende Parallele zu den bekannten Kritikthemen der post-postmodernen Contemporalgesellschaft. Der einzige Unterschied scheint hier der Feind zu sein, denn in der Zombiewelt von 1ND1V1DUM8 gibt es keinen. Der große Fernseher am Eingang des Sophienhofs, der ein weiteres großes rotes Herz zeigt, deutet zwar an, aber formuliert keinen plumpen Schlachtruf gegen Medien, Kapital, Politik. Es sind wir selbst, die geblieben sind. Wir sind die Zombies, die kaputten, die Kaputtmacher. Und genau das zeigt uns 1ND1V1DUM8 auf so erschreckend ehrliche Art.
Wir hoffen, dass uns bald noch mehr Zombies in den Straßen begegen und dass dadurch vielleicht ein paar Menschen mehr wieder echte Liebe mit sich tragen anstatt der gekauften, dass Menschen sich wieder ansehen anstatt Fotos zu posten, dass wir den Fernseher bald nicht mehr brauchen, um uns Liebe zeigen zu lassen. hw
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